Berührung, Eroberung und Sexualität #8

Berührung und Eroberung

Im letzten Beitrag hatten wir die Macht der Vergangenheit für das endliche Spiel besprochen und herausgefunden, dass erst das Genie in uns die Vergangenheit als Vergangenheit erkennen und akzeptieren kann. In diesem Beitrag werden wir uns noch etwas weiter mit dem Genie auseinandersetzen und zwischen der gegenseitigen Berührung im unendlichen Spiel und der Eroberung im endlichen Spiel differenzieren.

Immer, wenn wir es schaffen als Genie unser selbst zu handeln, so können wir die Vergangenheit als Vergangenheit erkennen und akzeptieren. Wir tun dies nicht, um die Vergangenheit zu verdrängen oder zu leugnen, sondern um sie durch unsere Originalität und Lebendigkeit umzugestalten und neu zu interpretieren. Wir können das Publikum vergessen und unsere Spielfreiheit wiederfinden.

Die Quelle des Genies

Wenn wir in eine Kultur hineingeboren werden, so gibt es immer Personen, die das endliche und das unendliche Spiel mit uns spielen wollen. Die endlichen Spieler drängen uns dazu unser Leben zu theatralisieren und uns in eine Rolle zwingen, damit wir einem Skript nachgehen, das in der Vergangenheit bereits geschrieben wurde. Es gibt aber auch Personen in deren Gegenwart wir lernen uns auf Überraschungen vorzubereiten. In der Gegenwart solcher Personen erkennen wir uns als das Genie, das wir sind. Die Quelle des Genies ist jedoch niemals extern, sondern immer in uns, nur wir können unsere Spielfreiheit erkennen.

Berührung im unendlichen Spiel

Das Genie in uns entsteht, wenn wir als Person berührt werden. Berührung ist dabei ein charakteristisches paradoxes Phänomen des unendlichen Spiels, denn man wird nicht berührt, wenn der Abstand zwischen zwei Personen auf null reduziert wird. Man wird berührt, wenn man von seinem eigenen Zentrum aus antworten kann und man kann nur berühren, wenn man aus seinem eigenen Zentrum als sein eigenes Genie agiert. Berühren ist daher immer wechselseitig von Genie zu Genie, von Zentrum zu Zentrum, von Person zu Person. Man kann nicht berühren, wenn der andere es nicht zulässt, und wenn er es zulässt, dann berührt es einen auch zurück.

Bewegung im endlichen Spiel

Das Gegenteil von Berühren ist Bewegen. Man wird bewegt, wenn man von außen nach einem Plan gedrückt wird. Wir sind gegen die Bewegung ohnmächtig und in eine Rolle gedrängt. Es ist eine inszenierte Aktion, die selbst nur von Rollenspieler durchgeführt werden kann, da sie das Genie in uns übersehen oder nicht kennen. Dies bedeutet, dass wir nur von Personen bewegt werden können, die nicht das sind, was sie sind. Und wir können nur bewegt werden, wenn wir nicht das Genie sind, das wir sind, sondern die Rolle, die wir imitieren, weil wir sie nicht sein können.

Wer berührt wird, der wird als Person berührt, die hinter all den Rollen und Masken steckt. Er wird gleichzeitig von innen verändert und berührt auch zurück.

Heilung und Reparatur

Der Charakter des Berührens zeigt sich deutlich darin, wie unendliche Spieler sowohl „Heilung“ als auch Sexualität verstehen. Wenn berührt zu werden bedeutet, von der eigenen Mitte aus zu antworten, so bedeutet dies auch, als ganze Person zu antworten. Ganz sein bedeutet hier vollständig sein, so wird jeder „erfüllt“ und „geheilt“, der berührt wird.

Ein endlicher Spieler hat nicht das Interesse „geheilt“, „erfüllt“ oder „ganz gemacht“ zu werden, sondern vielmehr repariert oder funktionsfähig gemacht zu werden. Eine „Heilung“ führt zurück zum Spielen im unendlichen Spiel, während eine Reparation einen zum Wettkampf in einem endlichen Spiel zurückbringt.

Eine Krankheit hat immer „den Geruch des Todes“. Entweder kann sie zum Tod führen, oder sie führt zum Tod eines Konkurrenten. So ist die Angst vor einer Krankheit auch die Angst vor dem Verlieren. Wenn man jedoch „geheilt“ oder „erfüllt“ wird, so findet man zu seinem Zentrum zurück und die Freiheit zu Spielen wird nicht durch eine Krankheit oder einen Funktionsverlust beeinträchtigt. Dies meint, dass die Krankheit nicht beseitigt werden muss, bevor man „geheilt“ oder „erfüllt“ werden kann und das Spielen und Lachen wiederfindet.

Eine „Heilung“ oder „Erfüllung“ benötigt die Gegenseitigkeit des Berührens, so dass man sich nicht selbst berühren, „erfüllen“ oder „heilen“ kann. „Heilung“ oder „Erfüllung“ erfordert jedoch keine Spezialisten, sondern nur jemanden, der aus seinem Zentrum zu uns kommt und bereit ist, durch die Teilnahme am unendlichen Spiel, selbst geheilt zu werden.

Sexualität im unendlichen Spiel

Die Sexualität ist für den unendlichen Spieler eine Berührung. Er kann nicht berühren, ohne auch sexuell zu berühren, denn Berühren ist etwas zwischen dem Zentrum zweier Personen. Sexualität ist dramatisch und bringt Genies zusammen und zum vollen Ausdruck.

Echte Sexualität als Zeichen der Genies ist dabei genauso gefährlich für eine Gesellschaft wie die Kunst. Das endliche Spiel kennt dabei zwei Möglichkeiten die „echte“ Sexualität zu verschleiern. Die eine besteht darin, die Sexualität als ein Prozess der Fortpflanzung zu behandeln und die andere darin, sie in den Bereich des Verhaltens zu stellen. In beiden Fällen hat es den Charakter von etwas, das beobachtet werden kann. Daraus werden Fragen abgeleitet, ob ein bestimmtes Verhalten akzeptabel oder wünschenswert ist. Es ist ein Versuch das Genie über die Frage einer richtigen Reaktion auf Sexualität zu verwirren. Sexualität kann auf diese Weise als ein gesellschaftliches Phänomen behandelt werden, das gemäß der vorherrschenden Ideologie, Regeln und Vorschriften reguliert und verwaltet werden kann. Sexuelle Rebellen, die gegen die sexuellen Tabus verstoßen, schwächen jedoch diese Ideologie nicht, sondern bekräftigen sie als die Regeln des endlichen Spiels.

Pornografie etwa ist nur insofern aufregend, als sie etwas Verbotenes enthüllt, was sonst nicht sichtbar wäre. Die Spieler mit endlicher Sexualität benötigen wie die Politiker und Staaten nicht nur den Widerstand derer, die sich weigern, sich ihnen anzuschließen, sondern auch den Widerstand derer, die sich ihnen anschließen, damit die Regeln und Tabus manifestiert werden.

Sexualität im endlichen Spiel

Die sexuellen Handlungen eines endlichen Spielers werden in der Tat durch Desinteresse oder Angst oder Abscheu des anderen angeregt, sodass der Drang nach Eroberung und Wettkampf steigt. Ein endlicher Spieler wird durch Ablehnung nicht dazu gebracht das sexuelle Spiel nicht zu spielen, sondern seine Motivation für das endliche Spiel steigt. So interpretiert der endliche Spieler die Ablehnung und Gleichgültigkeit nicht in Bezug auf das endliche Spiel, sondern als Gegenspieler im endlichen Spiel.

Die endliche Sexualität in das einzige endliche Spiel, bei dem der Preis des Gewinners der besiegte Gegner ist. Sexuelle Titel sind wie alle anderen Titel Ausdruck bestimmter Errungenschaften, nur dass in der Sexualität Personen erobert werden. So ist es in der komplexen Handlung der sexuellen Begegnung keineswegs ungewöhnlich, dass die Partner ein Doppelspiel spielen, bei dem jeder Gewinner und Verlierer ist und somit jeder ein Symbol der verführerische Kraft des jeweils anderen.

Endliche Sexualität ist eine Form des Theaters, bei der sich der Abstand zwischen den Personen regelmäßig auf null reduziert, jedoch keiner der Spieler berührt wird. Da die Sexualität das einzige endliche Spiel ist, in dem der Gewinnerpreis der Verlierer ist, ist der höchste Titel der endlichen Sexualität der öffentliche anerkannte Besitz einer anderen Person, sprich eine Beziehung, der die eroberte Person frei zustimmen muss. Der wahre Wert liegt somit in der öffentlichen Erklärung zum Meister im gemeinsamen endlichen Spiel.

Der Kampf um sexuelles Eigentum

Die schwerwiegendsten Kämpfe sind die um sexuelles Eigentum, denn wer Reichtum, ein Vermögen oder Titel gewinnt, aber in der Liebe (unendlichen Spiel) verliert, der hat in allem verloren. Dafür werden Kriege geführt, Leben in Kauf genommen und große Pläne initiiert.

Weil endliche oder verschleierte Sexualität ein Wettkampf ist, den die Teilnehmer gewinnen wollen, orientieren sie sich an vergangenen Strategien, Taktiken und Mustern und wie jedes endliche Spiel geht es größtenteils durch Täuschung voran. Sexuelles Verlangen wird daher normalerweise nicht direkt angekündigt, sondern unter einer Reihe von Freiheiten, Gesten, Kleidungsstilen und unauffälligen Verhaltensweisen verborgen. Verführungen werden inszeniert und bestimmte Dresscodes werden getragen. Bei geschickten Verführungen werden Verzögerungen eingesetzt und besondere Umstände festgelegt. Verführungen werden geplant, damit sie zu einem Ende kommen, denn wie wir wissen kann ein endliches Spiel, das gewonnen oder verloren wurde nicht mehr wiederholt werden. Wie in jedem endlichen Spiel besteht das Ziel der verschleierten Sexualität darin, sich selbst zu beenden.

Die Suche nach Neuheit im Liebesspiel, wie neue Positionen, Drogenkonsum, exotischen Umgebungen oder neue und zusätzliche Partner ist dabei die Suche nach neuen Verführungen, Eroberungen und nach neuen endlichen Spielen.

Das Spiel innerhalb von Grenzen und mit Grenzen

Im Gegensatz dazu haben unendliche Spieler kein Interesse daran, zu verführen oder die Freiheit eines anderen auf die eigenen Spielgrenzen zu beschränken. Unendliche Spieler erkennen Wahlmöglichkeiten in allen Aspekten der Sexualität. Sie wissen, dass wer sich dafür entscheiden kann mit anderen zu konkurrieren, sich auch für die Kooperation entscheiden kann.

Für unendliche Spieler ist die Sexualität kein begrenztes Spiel, sondern ein offenes Spiel. Man kann daher niemals sagen, dass ein unendlicher Spieler so oder so ist, denn jede Definition hat mit Grenzen, mit umschriebenen Bereichen und Spielstilen zu tun. Unendliche Spieler spielen nicht innerhalb sexueller Grenzen, sondern mit den sexuellen Grenzen. Sie befassen sich nicht mit Macht, sondern mit Vision.

Die sexuellen Ausführungen von unendlichen Spielern haben keine Standards, keine Ideale, kein Anzeichen für Erfolg oder Misserfolg. Weder Orgasmus noch Empfängnis sind ein Ziel in ihrem Spiel, obwohl beide Teil des Spiels sein können. In der unendlichen Sexualität ist nichts verborgen und sexuelles Verlangen wird als sexuelles Verlangen entlarvt und ist daher niemals ernst. Eine mangelnde Zufriedenheit ist niemals ein Misserfolg, sondern nur ein Moment, der auf den nächsten Moment wartet.

Körper und Person

Die unendliche Sexualität konzentriert sich nicht auf bestimmte Teile oder Regionen des Körpers, denn die Spieler machen nicht ihre Körper, sondern ihre Personen, dem anderen zugänglich. Auch hier können wir die Verletzbarkeit und Offenheit der unendlichen Spieler erkennen. Das Paradoxe der unendlichen Sexualität ist, dass wenn sie als Ausdruck der Person und nicht des Körpers betrachtet wird, dann wird sie zu einem vollständig verkörperten Spiel. Es wird ein Drama der Berührung.

Die endliche Sexualität bezieht sich auf den Körper, während die unendliche Sexualität sich auf die Person in einem Körper bezieht. Unendliche Spieler begegnen sich als die Personen, die sie sind, und begegnen andern mit ihren Grenzen und nicht innerhalb ihrer Grenzen. Dabei erwarten sie eine Transformation, werden transformiert und transformieren.

Während ich diese Zeilen schreibe, sehe ich im Internet den Spruch „if you’re not dating to marry, then you’re dating for heartbreak.“ Und er hat mich sofort an die unterschiedlichen Einstellungen des endlichen und des unendlichen Spielers erinnert.

Eine Familie ist nicht durch Vorschriften oder anderen Regelungen verbunden. Familien sind aus freien Stücken zusammen. Eine Familie von unendlichen Spielern ist eine ständige Enthüllungsarbeit, denn Vater und Mutter sind nur Rollen, die frei übernommen werden, aber immer mit dem Ziel sie als theatralisch darzustellen. Den Kindern wird dadurch klar, dass sie nicht nur gesellschaftliche Rollen sind, sondern wirklich konkrete Personen. Dadurch lernen Kinder, dass sie eine Familie haben, indem sie sich dafür entscheiden eine Familie zu sein.

Ich freue mich, wenn dir dieser Beitrag gefallen hat und du die Serie weiter verfolgst. Im nächsten Beitrag geht es um „Publikum und Zeit #9“.

Hier gelangst du nochmal zum vorherigen Artikel „Die Macht der Vergangenheit #7„.

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Beste Grüße

Leo Mattes

Quellen:

James P. Carse – „Finite and Infinite games“ (Buch)